Wer oder was ist Corona?

Noch ist das Virus nicht verschwunden, und wir wissen schon sehr genau wie wir uns schützen können oder sollen. Und doch schrecken uns neue Varianten mitten in den schönsten Sommerträumen auf, da wir es doch schon für relativ harmlos hielten.

Was ist das eigentlich für ein Wesen? Ist es überhaupt ein Wesen, ein Lebenswesen? Bestehend bloß aus ein paar Buchstaben Kohlen-Wasser-Sauerstoff? Hat es einen eigenen Willen? Hat es einen kollektiven Willen, etwas, das wir so schwer verstehen können?

Ein von mir sehr geschätzter Wissenschaftsredakteur der Zeitung Die Presse, Thomas Kramar, hat das Wissen dazu sehr gut aufbereitet. Erschienen ist der Artikel am 19.2.2021. Ich erlaube mir, ihn hier im vollen Wortlaut widerzugeben, und setze sein Einverständnis und das der Zeitung voraus.

„Was ist SARS-CoV-2?

Ist es überhaupt ein Lebewesen? Darüber sind sich die Biologen nicht einig. Fest steht, dass seine Entwicklung den Triebkräften der Evolution gehorcht: Mutation und Selektion. Sie bestimmen auch seine Vielfalt.

Der Hauptakteur der Pandemie ist geist- und geschlechtslos, es ist kein Individuum, sondern ein Kollektiv, eine riesige Armee aus geschätzten zwei Trillionen Soldaten. Diese Zahl hat unlängst der britische Mathematiker Kit Yates ausgerechnet – und dazu, dass alle derzeit existierenden Sars-CoV-2-Viren in eine Coladose passen würden.

Diese Viren sind nicht alle gleich, durchaus nicht, und vor allem nicht gleichbleibend. Sie ändern sich ständig, während sie sich (mit unserer unfreiwilligen Hilfe) durch Kopieren vermehren. Einfach weil im Zug dieses Kopierens – das man besser Abschreiben nennen sollte – Fehler passieren, die man Mutationen nennt.

Die Essenz des Virus heißt RNA

Fehler worin? Was wird da abgeschrieben? Das Molekül namens RNA, das die Essenz des Virus ist. Alles Drumherum ist nur temporäres Beiwerk, das dazu beiträgt, dass sich die RNA vermehrt. Wie ihre Schwester DNA, die bei höheren Lebewesen die Erbinformation speichert, verkörpert die RNA Information – in Form einer Sequenz aus vier chemischen Buchstaben, die man Basen nennt. Eine solche Buchstabenfolge, die man Gen nennen kann, wird in allen Lebewesen – auch in Viren – bei der sogenannten Expression in eine andere Sequenz übersetzt: die Sequenz der Aminosäuren in einem Protein, das dann die Information ausführt.
Der simpelste Fall einer Mutation ist, dass an einer Stelle der RNA (oder bei höheren Lebewesen der DNA) ein falscher Buchstabe steht. Das kann sich auf die Sequenz und Funktion des bei der Expression erzeugten Proteins auswirken.

Mutationen folgen keinem Plan

Die meisten Mutationen sind für das Virus letal oder zumindest nachteilig, verschwinden also schnell wieder. Doch manchmal kann eine Mutation – in einer bestimmten Umgebung, unter bestimmten Umständen – zufällig einen Vorteil bedeuten, „fitter“ machen, wie die Biologen sagen. Dann vermehren sich Wesen mit dieser Mutation (wieder unter bestimmten Umständen) mehr als Wesen ohne sie, und dadurch werden sie häufiger. Ganz ohne Absicht, Plan und Ziel.

Das nennen die Biologen Selektion, und genau das erleben wir derzeit mit dem Virus Sars-CoV-2. Es gehört zur Familie der Coronaviren, wie vier der vielen Viren, die einen harmlosen Schnupfen auslösen. Der Name kommt vom Aussehen: Ein Coronavirus erinnert Fantasiebegabte durch die typischen Stacheln (Spikes) an seiner Oberfläche an eine Krone. Genau diese Spikes sind von (für uns) fatalen Mutationen betroffen, doch davon später.

Zunächst eine Klarstellung: Immer wieder liest man, dass das Virus auf seine Umgebung, etwa auf die Anti-Covid-19-Maßnahmen oder die Impfungen, reagiere, indem es in seiner Bedrängnis vermehrt mutiere. Doch das stimmt nicht. Die Mutationsrate bleibt gleich. Nur die Anzahl der Viren steigt, und die Umweltbedingungen ändern sich, und damit die Selektion. Ein Beispiel: Lockdown-Maßnahmen bewirken, dass sich die aktuell häufigste Virusvariante – im Slang der Biologen gern „Wildtyp“ genannt – nur schlecht ausbreiten kann. Dadurch sinkt die Zahl der Infizierten. Zugleich tritt aber eine andere, zunächst ganz seltene Variante auf, mit einer Mutation, die die Ansteckung leichter macht. Dann wird diese Variante in der betroffenen Bevölkerung häufiger und irgendwann zu Recht selbst zum „Wildtyp“ erklärt werden.

Das ist in der Geschichte von Covid-19 mindestens einmal passiert, und zwar ziemlich am Anfang: Die Variante, die sich ab Februar 2020 in Europa und dann in der ganzen Welt ausgebreitet hat, unterscheidet sich durch eine Mutation im Gen für das Spike-Protein von der ursprünglich in Wuhan grassierenden Variante.

Auf die Spikes kommt es an

Das Spike-Protein bildet die erwähnten, für Coronaviren typischen Spikes, die Stacheln an der Oberfläche. Mit ihnen heftet sich das Virus an bestimmte Rezeptoren (ACE2) an der Oberfläche der Zellen, die es befällt. Klar, dass die Effizienz, die Klebrigkeit dieser Spikes, für das Virus entscheidend ist. Entsprechend betreffen alle wesentlichen Mutationen in den Mutanten, vor denen uns derzeit bangt, das Spike-Protein – obwohl es nur eines von immerhin zehn Proteinen des Sars-CoV-2 ist.

Zum Beispiel eine Mutation namens N501Y: Der Name sagt, dass in der Aminosäurenkette des Spike-Proteins genau die 501. Aminosäure nicht mehr Asparagin (N), sondern Tyrosin (Y) ist. Diese Mutation kommt sowohl in der englischen als auch der südafrikanischen und der brasilianischen Mutante vor.

Das macht wahrscheinlich, dass diese Mutation zumindest mit schuld daran ist, dass sich diese drei Mutanten besser an die Zellen heften. Darum hat sie sich wohl auch in drei ganz verschiedenen Weltgegenden unabhängig voneinander durchgesetzt – konvergente Evolution nennt man das.

Tückisch sind auch Mutationen, die bewirken, dass sich menschliche Antikörper schlechter an das Spike-Protein binden. Die britische Mutante hat eine Mutation, der man das nachsagt.

Es kommen noch viele Mutanten

Die Namen der Mutanten (z. B. B.1.1.7. für die britische) folgen keinem sonderlich überzeugenden System. Man muss sie sich nicht merken. Vor allem, weil in den nächsten Monaten immer mehr neue Mutanten auftreten werden. Wie gesagt: Nicht weil das Virus schneller mutiert, sondern weil es erstens so viele Viren gibt (und es werden immer mehr) und zweitens diese Viren heftiger Selektion ausgesetzt sind.

Unter anderem durch die Impfungen, die bewirken, dass die Viren von ihren Wirten nicht nur unfreundlich aufgenommen, sondern sogar aktiv bekämpft werden. Die derzeit begehrtesten Impfungen (das kann sich schnell ändern) beruhen auf einem Molekül, dessen Name noch vor einem Jahr nur Biologen und besonders merkfreudigen Maturanten geläufig war: Messenger-RNA.

Was ist das? Im Grunde die erste Abschrift eines Gens. Ein Gen – also ein bestimmter Abschnitt der DNA, die im Zellkern lagert, zugleich das Rezept für ein Protein – wird zunächst in Messenger-RNA übersetzt. Dann wandert diese in das Zellplasma. In den Ribosomen, den Proteinfabriken der Zelle, wird nach der genauen Anleitung der Messenger-DNA (und damit des ursprünglichen DNA-Gens) das jeweilige Protein produziert – im Fall der Impfungen von Pfizer/Biontech und Moderna das leidige Spike-Protein des Virus. Wieso funktioniert das? Wieso lassen sich die menschlichen Ribosomen von einer viralen RNA täuschen und benutzen? Weil die RNA des Virus Sars-CoV-2 und die Messenger-RNA des Homo sapiens chemisch genau gleich aufgebaut sind und genau gleich als Bauanleitungen für Proteine funktionieren. Sonst könnte das Virus nicht tun, was es tut: die Zellen seines Wirts für seine Vermehrung benutzen. Womit es natürlich von diesem abhängig ist: Viren können nicht selbstständig überleben. Darum rechnen viele Biologen sie auch nicht zu den Lebewesen.

Relikte einer Vorform des Lebens?

Was sind sie dann? Sind sie womöglich Relikte einer Vorform des Lebens, die nur auf RNA basierte, die sich ja unter Umständen auch selbst kopieren kann? Einer Lebensform, die weder DNA noch Proteine hatte? Oder sind Viren Schwundformen wirklichen Lebens? Mikroben, die sich darauf verlegt haben, die Vermehrung ihrer Erbinformation mithilfe – und auf Kosten – von anderen Lebewesen erledigen zu lassen?

Man weiß es nicht. Man weiß aber, dass sie die Lebewesen schon lang plagen. Sie haben sich sogar in deren Erbmaterial eingeschrieben. So bestehen auch beträchtliche Teile des menschlichen Genoms aus ehemaligen Viren, die offenbar ihre – ohnehin rudimentäre – Selbstständigkeit ganz aufgegeben haben. Reduziert auf ihre Essenz, die Erbinformation, reisen sie einfach von einer Generation in die nächste mit.

Wenn sie das aber nicht tun – und Coronaviren neigen nicht dazu –, dann sind sie durchaus fähig, von Art zu Art zu springen. Was eine gewisse Anpassung voraussetzt. Aber dafür sorgen schon die zufälligen Mutationen, wenn Zeit genug vorhanden ist. So gut wie alle Viren, unter denen Menschen leiden, sind irgendwann von Tieren auf uns gewechselt. HIV haben wir von Schimpansen übernommen, die Pocken sind wahrscheinlich von Nagetieren gekommen. Bei der Schweine- und der Vogelgrippe verraten ja schon die Namen die Herkunft.

Fledermaus und Schuppentier

Bei Sars-CoV-2 gibt es Hauptverdächtige. Erstens diverse in China heimische Fledermausarten, etwa die Java-Hufeisennase, in denen man Sars-ähnliche Viren gefunden hat. Zweitens Malaiische Schuppentiere, die trotz Verbots in China gehandelt werden. Auch ihre Coronaviren stehen Sars-CoV-2 recht nahe. Etliche Forscher meinen, dass dieses Virus aus einer Kombination von Fledermaus- und Schuppentier-Viren entstanden sei. Dabei fragt sich nur, in welchen Tieren diese Kombination passiert ist. Jüngst hat ein Hamburger Physiker die gleichsam kreationistische These vertreten, dass sie in einem Labor absichtlich erzeugt wurde – nicht unbedingt mit böser Absicht, sondern vielleicht bei Experimenten über die Virulenz diverser Viren. Das ist nicht völlig absurd, gilt aber als eher unwahrscheinlich.

Gezeichnet von Covid-19, fragen wir uns sofort: Passieren solche Kombinationen öfter? Entstehen durch sie womöglich gerade jetzt die Viren der nächsten Pandemie? Und in welchen Tieren finden solche Kombinationen statt? Damit befassen sich bereits Forscher, etwa an der University of Liverpool.

Der Sukkus ihrer ersten Analyse: Solche Kombinationen können oft passieren. Besonders in Fledermäusen, die überhaupt ziemliche Virenschleudern sind, weil sie selbst ein sehr gutes Immunsystem haben und daher mit ihren Viren gut auskommen. Aber auch in Schweinen – diese uns so nahen Tiere beherbergen etliche Coronaviren. Auch deshalb kann man wenigstens eines gefahrlos prophezeien: Virologe ist ein Beruf mit Zukunft.“

Bild oben: Sars-CoV-2 in einem 3-D-Scan von Nanographic, einem Design Lab an der TU Wien.

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