Babys sehen zunächst nur 20 bis 30 cm weit. Das ist wohl bekannt. Erst nach und nach lernen sie weiter zu sehen. Aber was bedeutet das – außer der banalen Antwort, dass sie eben dazulernen – und wie geht das?
Das Sehen ist im Normalfall das wichtigste Organ, das wir haben. Wir können blitzschnell erkennen ob wir einen Tisch oder einen Sessel vor uns haben, oder, weit wichtiger, ob sich ein Auto nähert und eine Gefahr bedeuten könnte. Wie diese überlebenswichtige Fähigkeit zustande kommt war bisher weitgehend unbekannt. Neueste Forschungen haben nun aufgezeigt, dass dafür erst die materielle Basis im Gehirn aufgebaut werden muß, sie ist nicht einfach „vorhanden“ und braucht bloß trainiert zu werden. Dazu hat man die EEGs von sechs- bis achtmonatigen Babys mit denen von Erwachsenen verglichen. Heraus kam, dass bei den Babys die materiellen Strukturen zum Erkennen komplexerer Bilder noch fehlen. Sie können zunächst hell/dunkel erkennen und Kanten und Rundungen, aber erst nach und nach können sich in ihnen die derart empfangenen Signale zu Mustern wie zum Beispiel einem Gesicht formen. Nötig sind dazu neu hinzukommende Nervenstränge, also gleichsam „fixe“ Verdrahtungen, die dann immer feiner und immer beständiger und immer schneller werden können.
Was bedeutet das aber? Ich sehe das so, dass wir dieses, unser wichtigstes Organ, erst „bauen.“ Das Auge – und vermutlich ist s mit den anderen Sinnesorganen ebenso – und die zugehörigen Vernetzungen sind Eins, sie können nicht getrennt gesehn werden. Wir reagieren auf unsere Umgebung und lernen sie in einer bestimmten Weise wahrzunehmen, sie in der Folge als „wahr“ zu erkennen. Und alles andere, das eventuell anders wahrgenommen werden könnte als „nicht wahr“ zu ignorieren oder abzulehnen. Das ist eine weit reichende Folgerung. Ist „die“unser“ Welt so, wie sie „wirklich“ ist, oder so wie sie uns der von uns selbst aufgebaute „Apparat“ sie uns zeigt? Was wäre wenn es in der Übertragung von der RNA eine Art „Lesefehler“ gäbe? Was wäre wenn wir in eine andere Umwelt wie etwa in dem Caspar Hauser Experiment in eine völlige Abschirmung von der Umwelt hineingesetzt worden wären? Würde dann ein anderer „Apparat“ aufgebaut? Wäre diese Welt dann ein andere, jedenfalls eine, die wir nicht denken können, weil sie nicht die unsrige ist?
Na hallo, wieso denn das? Die Welt wäre doch die gleiche, es läge nur an unserer mangelnden Erkenntnisfähigkeit, so höre ich imaginär den Einwand. Ist das so? Wir wissen doch auch erst ob Schrödingers Katze lebt, wenn wir die Schachtel öffnen, oder nicht? Vorher ist ihr Zustand unbekannt und kann so oder so sein, erst im Erkennen „wird“ sie so oder so. So oder so: Je nachdem wie sich unser „Erkennungs-Apparat“ aufgebaut hat und mit welchen Wertungen wir ihn versehen haben, so sieht die Schachtel aus, in der wir sitzen, Schrödingers Katze gleich. Können wir aus dieser Beengung selbst heraus, können wir Freiheit erlangen aus der beengten „Welt“, in der wir uns selbstbewußt, unseres „Selbst“ bewußt, als ein „Ich“ sehen? Und was ist dieses „Ich“? Wie die Forscherin Anneliese Pontius vor einigen Jahren herausfand – ich traf sie bei einer Zugfahrt – konnten die von ihr besuchten Einwohner von Papua Neu-Guinea keine sich nähernden feindlichen Schiffe erkennen. Das heisst: ihr „Apparat“ war dafür nicht aufgebaut, ihre Welt war eine engere, was zum Teil gravierende Folgen hatte. Man kann auch sagen, sie in ihrer Freiheit zu entschieden, ob Feind oder Freund, erheblich beeinträchtigte.
In der Essenz-Schrift des Mahayana Buddhismus, im Herz Sutra, steht seit tausenden von Jahren eine mögliche Antwort auf dieses Phänomen, auf diesen „Fehler“, dessen wir uns nicht bewußt sind, und der in vielfältiger Weise zu Leiden führen kann: Im Ursprung hat nichts eine Form. Es gibt das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Berühren nicht, und daher gibt es keine Gedanken und keine Urteile über „die Welt“. Sie IST einfach, IST in aller Fülle. Sie ist nicht eingeengt durch die „Apparate“, wie sie unsere Sinnesorgane sich im Zusammenspiel mit den neuronalen Vernetzungen selbst aufgebaut haben. Um diesen Zusammenhang gedanklich erfassbar zu machen, benennen die alten Schriften das Bewußtsein als den sechsten Sinn. Diesen Ursprung, sie wird sehr treffend Leere genannt, zu erkennen, womit gemeint ist: mit jeder Faser zu erleben (!), sei, so der Mahayana Buddhismus, der Schlüssel ebenso zur Erkenntnis, dass unser „Ich“, unsere Persönlichkeit, aus diesen äußeren Bedingungen heraus entstanden und somit keineswegs vorgegeben ist. Und was nicht fix ist, kann auch anders sein, kann geändert werden, kann anders erlebt werden. Diese Erkenntnis ist der große Freiheitsgewinn. Manche nennen es die Auflösung des Leids.
Der Buddha wurde gefragt: „Wie entsteht die Illusion und der Glaube an eine eigenständige, aus sich heraus bestehende Persönlichkeit?“ Die Antwort: „Die Illusion und der Glaube an eine Persönlichkeit entstehen dadurch, dass Menschen sich mit dem Körper, den Empfindungen, den Wahrnehmungen, den Geistesformationen oder mit ihrem Bewusstsein identifizieren und diese als ihr Ich betrachten“. Und weiters wurde gefragt: „Wie kann man diese Ich-Illusion und die daraus entstehende Ich-Bezogenheit vermeiden?“ Die Antwort: „Alles, was im eigenen Geist auftaucht, sieht man der Wirklichkeit entsprechend als unbeständig und nicht als beständiges Ich. Man weiß: ‚Dies bin ich nicht, das gehört mir nicht, das ist nicht mein Selbst.‘ Wenn man die erscheinenden Phänomene so betrachtet, entsteht keine Ich-Illusion und keine Ich-Bezogenheit. Sich nicht mit den Phänomenen identifizierend, wird man frei vom Leid“.
Erstaunlich wie verblüffend diese alten Texte mit Erkenntnissen kompatibel sind, denen sich unsere Wissenschaft erst nach und nach annähert, nicht wahr?
Quellen:
Wiener Zeitung, Freitag, 2. Dezember 2022, Seite 27; Forschungen der Universitäten Wien und Berlin, veröffentlicht in „Current Biology“.
Majjhima Nikaya (MN) 109; Samyutta Nikaya (SN) 22.95; Die vier edlen Wahrheiten; Frank Zechner (Octopus, 2005)