Wir wähnen uns gerne als solitär, als Menschen, die, wie man sprichwörtlich sagt, die Welt erfunden hätten. Das gilt natürlich für die jungen Jahre, und wahrscheinlich ist das gut so, sonst würde tatsächlich nicht von jeder Generation die „Welt neu erfunden“ werden. Nicht zufällig sind die bahnbrechenden Erfindungen und Erkenntnisse der meisten Nobelpreisträger in ihren Mittzwanzigern entstanden. Vielleicht kann man so sagen: sie haben sich, zumindest in ihrem Teilbereich, von Vorgegebenem gelöst. Das heißt aber nicht: von allem was sie von Elternhaus, Lehrern, Umwelt und eigentlich von auch von deren Altvorderen mitgeschlepptem Rucksack an Meinungen und Festlegungen gelöst hätten. Niemand schwebt wie völlig ungebunden aus dem All daher und baut sich erst seine Weltsicht auf. Das ist auch gut so, denn sonst würden wir damit gar nicht fertig, zu komplex ist das, was wir „so bin ich“ nennen.
Meine Eltern waren, so meine Wahrnehmung, ziemlich unpolitisch. Mein Vater war zwar in seinen jungen Erwachsenenjahren vor dem Krieg in der christlich-sozialen Gewerkschaft aktiv, aber so weit ich weiß nicht kämpferisch. Er war wohl eher dabei, weil die katholisch waren, und ihm, als Zuwanderer-Kind, der Katholizismus Halt und Sicherheit gab. Meine Mutter erlebte ich als völlig unpolitisch, und mit den Nazis hatten sie beide nichts am Hut, die waren ja auch nicht katholisch, auch wenn meine Mutter gerne sagte, dass die Zeit beim Arbeitsdienst der Nazis eine sehr schöne Zeit für sie war. Aber es war heraus zu hören, dass es ihr dabei um die Gemeinschaft und Freundschaft mit den anderen arbeitsverpflichteten Mädels ging.
Ihr Arbeitsleben bevor sie Mutter und Hausfrau wurde erzählte sie zwiespältig. Sie war im zweiten Wiener Gemeindebezirk aufgewachsen, auf der so genannten Mazzes-Insel, die so genannt wurde, weil sie vorwiegend von Juden bewohnt war und Mazzes ein typisch jüdisches Fladenbrot ohne Hefe ist. Und sie berichtete von den gegenseitigen Hetzereien der als „Gois“ beschimpften Nicht-Juden und den als „stinkende Sarah“ geschmähten Juden in der Schule. Heute würde man das als antisemitisch oder zumindest als rassistisch bezeichnen, für sie als Schülerin und Teenager war es der Alltag und sie fand auch später nichts Antisemitisches daran. Was mir als Erbe blieb waren einige jiddische Ausdrücke, die sie verwendete und die ich zu meiner Belustigung heute noch mit amerikanischen, ansonsten englisch sprechenden Freunden mit jüdischen Wurzeln austauschen kann. Eine Lingua Franca sozusagen.
Nicht sehr freundlich berichtete sie über ihre Lehrherrin in der Schneiderei, von der sie sich offenbar schikaniert fühlte. Dass man das Schikanieren eines Lehrmädels mit der Tatsache des Jüdinnen-Seins verband, ist das historisch Tragische, es bestand aus heutiger Sicht ja kein Anlass das in Beziehung zu setzen, auch christliche Lehrherren waren, dem Zeitgeist entsprechend, vermutlich nicht freundlicher zu ihren Lehrlingen.
Nach dem Krieg, nachdem mein Vater aus dreijähriger Haft in Sibirien zurückgekehrt war, hatte er offenbar genug von gewerkschaftspolitischem Engagement. Was blieb, war sein Katholisch-Sein, und meine Mutter war, wie ich schon sagte, so und so unpolitisch, wahrscheinlich machte sie bei Wahlen ihr Kreuzerl an der gleichen Stelle wie mein Vater, nämlich für „die Schwarzen“, denn die repräsentierten den Katholizismus, und damit das weltanschauliche Fundament.
Welche Weltanschauung meine Großeltern mütterlicherseits vertraten, die ich ja, anders als die väterlichseitigen ja kannte, weiß ich nicht. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass sie am 1. Mai irgend eine Fahne hissten als das noch üblich war, und durch die Nazi-Zeit waren sie anscheinend gut durchgekommen, obwohl meine Großmutter als Slowakin nicht gerade sehr „arisch“ war und mein Großvater als Weltkriegs I Teilnehmer wohl zu alt für den Weltkrieg II war. Trotzdem seltsam: Ich habe mich das bis zum heutigen niemals gefragt. Denn: Kann das stimmen? Ich weiß es nicht.
Diese Prägungen habe ich also, wiewohl unbewusst, mitbekommen. Die sonstige Verwandtschaft? Meine Tante E., die jüngere Schwester meiner Mutter, erlebte ich als unpolitisch, wie Hausfrauen damals eben waren, aber auch als dezidiert unkirchlich. Ihr Mann, mein Onkel F. und Taufpate hingegen, stammte wie mein Vater von eingewanderten Tschechen, besser: Böhmen oder Mähren, ab, und er war das anscheinend sehr bewusst. Er liebte es, meinen Vater mit tschechischen Ausdrücken aufzuziehen, mit denen der nicht mithalten konnte. Er war ja auch was „Besseres“, er war Ingenieur. Als solcher war er dann, nach dem es die Bäckerei seines Vaters nicht mehr gab, bei Mautner Markhof, nicht in der Entwicklung aber im Verkauf der Mautner Markhofschen Hefe und Backmischungen. Deshalb hatte er auch als Einziger in der näheren Verwandtschaft ein Auto! Seine Liebe zur Technik lebte er aus, als er für mich im Keller unseres Siedlungshauses eine wunderbare Modellbahnanlage baute, aber nicht mit der billigeren, österreichischen Kleinbahn, sondern mit der teureren deutschen Märklin-Bahn, worauf ich mächtig stolz war. Es muss mir das wohl so eindrücklich vermittelt worden sein.
Natürlich war ich dafür viel zu jung und ich hatte mehr Spaß daran meine zwei Lokomotiven mit Höchstgeschwindigkeit in die Kurve zu jagen bis sie entgleisten, oder sie so lange gegeneinander fahren zu lassen bis sie entweder haarscharf an der Weiche aneinander vorbei rasten oder zusammenstießen. Es war ein einsames Vergnügen, das mir nicht allzu viel Spaß machte, denn in der Regel war ich allein im Keller, außer mein Vater werkte in seiner kleinen Schusterwerkstatt gleich daneben im Keller.
Die noch jüngere Schwester meiner Mutter, Tante S., war, im Gegensatz zu Tante E., die zwei Töchter hatte, kinderlos. Auch sie war so etwas wie etwas „Besseres“, denn sie war Sekretärin. Tante S. war der bunte Vogel. Sie war vielleicht Witwe oder geschieden, aber lange Zeit mit einem Kino-Besitzer liiert, verkehrte im nahen Greifenstein an der Donau mit den Motoryacht-Besitzern und machte Urlaube, wenn ich nicht irre, in mondänen Gegenden. Als sie in Greifenstein in eine noblere Hütte direkt an der Donau überwechselte, übernahmen wir ihre alte Badehütte.
Das muss man sich so vorstellen: Ein winziges Häuschen aus Holz und auf etwa zwei Meter hohen Pfeilern aus Beton um dem Hochwasser zu entgehen, das damals, bevor das Kraftwerk gebaut wurde, noch regelmäßig kam, was aber nicht immer gelang. Drinnen war, dem Lebensstil der Tante gemäß, eine Bar mit einer Lampe aus einer dieser bauchigen, bastumwickelten Chianti-Flaschen auf dem Tresen, auf deren Schirm Aufkleber verschiedener, recht exotisch klingender Schnaps-Marken waren. Klo gab es als Plumps-Klo in einem Häuschen im Freien, Wasser aus einer Hand-Pumpe. Das haben meine Eltern dann gründlich umgebaut, sonst hätten sie mit den zwei Kindern nicht Platz genug gehabt. Es gab dann eine relativ geräumige Terrasse, Wasser aus einer elektrischen Pumpe und Wasser im Haus mit einem Tank auf dem Dach. Ich war stolz dabei mithelfen zu können, etwa die automatische Steuerung für den Wassertank zu entwickeln. Meine Eltern haben dafür an Tante S. sicherlich etwas, ich weiß nicht wie viel, bezahlt, und sie galt, weil kinderlos, als „Erbtante“, und wir Nichten und Neffen haben dann tatsächlich einen netten kleinen Betrag von ihr geerbt.
Die Geschwister meines Vaters, meine Tanten und Onkel also, waren schon komplexer zu sehen. Da war vor allem Tante A., die als Garderoben-Frau im Konzerthaus arbeitete, was mir zu meiner Freude ermöglichte, meine Garderobe gratis abzugeben. Auch diese Tätigkeit war für mich was „Besseres“, obwohl sie das tun musste um ihren Mann zu erhalten, der als Alkoholiker, der kaum noch ein Glas halten konnte ohne es zu verschütten, in Frühpension war. Er war irgendwas in einem Finanzamt, vermutlich ein Aktenträger, und Tante A. hatte nicht nur ihn, sondern auch die drei Söhne zu erhalten, von denen einer übrigens zeitlebens angedenk seines Vaters zu einem strikten Anti-Alkoholiker geworden war. Erst viel später habe ich erfahren, dass sie zuhause eine Spezial-Nähmaschine hatte auf der sie in Heimarbeit Wursthäute zusammennähte. Ein Sohn war Buschauffeur bei der Stadt Wien, ein anderer Sohn stieg vom Kellnerlehrling zum bewunderten Chef de Irgendwas in der französischen Schweiz auf. Von ihm habe ich die Smokingjacke bekommen, mit der ich zu meinen ersten Bällen ging, aber ansonsten hatte ich mit allen Dreien nicht viel zu tun. Der Vater war ausserdem nicht nur alkoholkrank, sondern auch ein unerträglicher Witzeerzähler, dem man nicht entging, ohne irgend einen blöden Witz erzählt zu bekommen.
Eine andere Schwester meines Vaters, Tante G., hatte ebenfalls die Familie zu erhalten, nämlich Mann, Tochter und Sohn. Ich glaube, sie hat sie als Putzfrau durchgebracht, aber auch als selbständige Verkäuferin von Lottoscheinen. Ich selbst erinnere mich nicht daran, aber meine Schwester sagt, sie erinnere sich noch, dass der Briefträger ihr den Verdienst dafür ins Haus gebracht hat, Bankkonten waren noch nicht üblich. Auch mein Vater erhielt sein Gehalt in einem „Lohnsackerl“. Ihren Mann kenne ich nur als im Bett liegend und eine weiße dünne Haube auf dem Kopf. Er war Kettenraucher und verlangte trotz der widrigen finanziellen Lage der Familie stets nach feinstem Schinken – etwas, das in unserer Verwandtschaft ansonsten außerhalb der finanziellen Reichweite war. Vermutlich war er ein alter Nazi, der sich hier verkroch, sein Sohn jedenfalls schien später zeitlebens dieser Ideologie nicht abgeneigt zu sein. Als wir ihn mit einem unserer Söhne, um die verwandtschaftlichen Beziehungen wieder aufzufrischen, in seinen letzten Lebensjahren besuchten, war da jedenfalls ein Glasschrank mit allerlei einschlägigen Devotionalien zu sehen.
Und dann gab es noch Tante M., die dritte Schwester meines Vaters. Sie war dem Vernehmen nach zeitlebens jungfräulich. Vielleicht lebte sie deshalb am längsten, sie wurde mehr als neunzig Jahre alt. Tante M. war das beständige Ärgernis meiner Mutter, aber auch meiner Schwester. Ihr wurde sie nämlich als leuchtendes Vorbild präsentiert, die jungfräulich blieb, weil sie sich um die Pflege ihrer Mutter, also unserer Großmutter, kümmerte. Mein Vater war jeden Mittwoch nach der Arbeit bei ihr auf einen Milchkaffee mit eingetunktem Brot, angeblich weil er das der Großmutter versprochen habe, und nicht selten kam er mit den belehrenden Worten nach Hause „die M. hat gesagt“, was meine Mutter zur stillen innerlichen Raserei trieb. Weihnachten verbrachte sie bei uns und mein Vater behauptete regelmäßig, sie könne das böhmische Gansl mit Sauerkraut und Knödel viel besser als meine Mutter. Klar, dass meine Mutter vor Zorn schäumte.
Ich denke, das waren meine Prägungen aus der Verwandtschaft heraus, auch wenn wir einander nicht so oft trafen. Eigentlich nur jedes Jahr zu Allerheiligen am 1. November, wo sich die väterliche Familie am Grab der Eltern, bzw. Großeltern am Friedhof Ottakring traf. Es war meist saukalt, nebelig und völlig uninteressant und ein wenig peinlich, wenn alle eine stille Gedenkminute hielten und sich bekreuzigten. Gemildert wurde das Ganze dadurch, dass es am Weg Standln mit gebratenen, mit Zucker überzogenen Äpfeln gab, von denen ich einen erhielt, aber meine Schwester, so behauptet sie, nicht. Dann ging es zum großen Treffen bei Tante M.. Die wohnte in einer mir recht geräumig erscheinenden Wohnung direkt über dem längst aufgegebenen Schuhmacherladen der Großeltern, der auf einem Foto, das ich von ihnen hatte aber nicht mehr finde, mit den Maßstiefeln und Stiefeletten außen aufgehängt gezeigt ist und betrieb eine Maßschneiderei. Das war weniger exklusiv als es heute klingen mag, denn damals gab es einfach noch keine Kleider „von der Stange“. Ich bekam Kakao und durfte am Boden mit Spielzeug-Autos spielen und verstreute Stecknadeln suchen. Die Erwachsenen redeten irgendwas, der schon erwähnte Säufer-Onkel erzählte Witze und die beiden jüngeren Cousins schäkerten mit meiner Schwester, wobei sich beide mächtig aufpfauten.
Tante M. hatte dann eine, als Selbständige sicherlich sehr kleine, Pension als sie ins Altersheim ging wo sie jeden Morgen die Messe besuchen konnte, denn sie war außer meinem Vater die einzige Kirchgeherin. Aber trotz ihrer bescheidenen Umstände schenkte sie mir zu den Geburtstagen stets eine Goldmünze. Die Tante M. sah immer irgendwie grantig „behmisch“ aus, im Gegensatz zu ihren beiden Schwestern G. und A.. Als ich viel später ein Bild ihrer Mutter, also meiner Großmutter, zu Gesicht bekam sah ich sofort die Ähnlichkeit, die sah genau so aus. Führte ich bei Tante M. ihr Grantigsein auf ihre lebenslange Partnerlosigkeit zurück, so bei meiner Großmutter wohl eher auf die zwölf Kinder, die sie geboren hatte und von denen ein paar gleich nach Geburt oder in jungen Jahren verstorben waren. Ein einziger von denen, die ich nie kennen gelernt habe, ist erst im Erwachsenenalter gestorben, und dem sehe ich angeblich sehr ähnlich. Der grantige böhmisch-mährische Blick mit den buschigen Augenbrauen war aber wohl eher genetisch bedingt als durch die Lebensumstände.
Zu den verwandtschaftlichen, sozusagen epigenetischen Prägungen, kamen dann die außerhäuslichen dazu, die sich aber nicht minder in die Epigenetik einbrannten. Da war zunächst der Gottvater mit dem grauen Rauschebart, der in die Kuppel unserer Pfarrkirche gemalt war. Der, so wurde uns beim Erstkommunionsunterricht eindringlich gesagt, sehe alles und wisse alles. Warum man dann seine Sünden beichten soll, wenn er sie eh alle weiß, wurde mir nie klar, aber eine unbestimmte, aber große Angst vor bösen Folgen blieb. Dann kam die Ministrantenzeit in der damals noch lateinisch gelesenen Messe. „Confiteor Deo omnipotenti“, ich bekannte also regelmäßig dem sowieso Allwissenden, „quia peccavi nimis cogitatione, verbo et opera“, dass ich gesündigt habe in Gedanken, Worten und Werken, „mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld. Wo war meine Schuld? Ich empfand keine, aber ich suchte nach ihr und weil ich sie nicht fand hatte ich ein regelmäßig erneuertes schlechtes Gewissen. Soll man so etwas einer unschuldigen kindlichen Seele antun? Ich denke nein, es ist ein Verbrechen, es soll lenkbare Untertanen produzieren. Der Gründer des Jesuitenordens, Franz Xaver soll gesagt haben, gib mir einen Siebenjährigen und ich mache aus ihm was ich will. Das ist es wohl warum sie dir das antun.
Später gab es dann einen so genannten Jugend-Priester, der als fortschrittlich galt, gleichsam ein Revoluzzer, mit dem man diskutieren und philosophieren konnte. Aber auch er war im Grunde bloß ein Wolf im Schafspelz, auch er konnte sich nicht aus der Schuldverstrickung der oftmals zitierten, einfach so von der Religion behaupteten „Erbsünde“ lösen, die wir alle als Pinkerl angeblich mit haben. Ich nehme an, er litt selbst darunter, manche seiner Priesterkollegen zerriss es dabei ihr Lebtag lang. Und wozu? Just for nothing. Meine Matura in Religion brachte auch keine tiefschürfende Erkenntnis, bloß, dass der „Diamat“, der Dialektische Materialismus, der Inbegriff allen Bösens sei.
Die Befreiung gelang mir dann mit meiner ersten Ehefrau. Sie war so etwas von „ungläubig“ wie man es sich nicht ausgeprägter vorstellen kann. Trotzdem wollte sie natürlich im weißen Kleid heiraten, getraut von eben jenem Jugendpriester. Ich bin in diese Ehe gleichsam hinein gestolpert. Ich hatte meinen Studienabschluss, einen Markstein, dass ab da der Ernst des Lebens beginnen sollte, und da gehörte eine Heirat einfach irgendwie dazu. Keine Ahnung was uns der Priester bei der Hochzeit salbungsvoll sagte, darum ging es ja nicht. Es ging eher darum ungestört von schiefen Blicken der Elternhäuser zusammenleben zu können. Unsere Beziehung war ja auch extrem hormongesteuert, da hatten philosophisch-spirituelle Gedankenspielereien absolut keinen Platz. Und so trennte ich mich von der Kirche, später, nach wilden gemeinsamen Jahren, über die ich kein Wort sagen werde, auch von ihr.
Ich war frei! Ich hatte mittlerweile meine Lebenspartnerin kennen gelernt, DIE Lebenspartnerin, da stolperte ich über eine Einladung zu einem Vortrag im Audimax der Technischen Universität und zwar von dem Vorzugsschüler von ein, zwei Jahrgängen über mir im Gymnasium. Und zwar stellte er eine Meditationsmethode vor, die alles und jedes im persönlichen Leben verändern würde und in der Welt insgesamt. Vorzeigeschüler? Prominenter Ort? Das konnte doch nichts Dummes sein. Ich ging also hin, war fasziniert und neugierig mehr zu erfahren. Ich bezahlte eine Gebühr und bekam mein persönliches Mantra aus der Transzendentalen Meditation des Guru Maharishi. Später nahm ich dann auch meine Partnerin mit und wir praktizierten das gemeinsam, das heißt, getrennt, jeder für sich und wir besuchten auch weiterführende Seminare.
Diese Meditation geht so, dass man sich das „geheime“ Mantra beständig innerlich vorsagt, den ganzen Tag, am besten auch in der Nacht. Man kommt dann mit der Zeit in einen seltsamen Geisteszustand, der einen sensibel, zu sensibel für die Außenwelt macht. Fortgeschrittene lernen dadurch auch das „Vedische Fliegen“, und auch das wollte ich natürlich wissen und kennen lernen. Und so war ich bei der Vorführung in der UNO-City dabei, wohl als Journalist, wo mehrere „flogen“. Ich habe das auch fotografiert. Natürlich ist niemand wirklich geflogen, aber die plötzliche Energieentladung aus dem Schneidersitz hat zu einer Art Hüpfen geführt, die schon recht erstaunlich war. Maharishi wollte mit dem Kontakt mit internationalen Organisationen den Weltfrieden herstellen. Von seiner Ausbildung her war er Physiker und seine Theorie war, dass ein gemeinsames Bewusstseinsfeld entsteht, wenn mindestens 2% einer Bevölkerung gemeinsam meditieren und so Frieden herstellen. Dazu gab es viele Studien, die aber alle in Vergessenheit geraten sind. Ich habe das vedische Fliegen nie gelernt, das übrigens so heißt weil es schon im Yoga-Sutra des Patanjali beschrieben wird. Ich habe es nicht gelernt weil jeder Aufbaukurs beständig teurer wurde, ganz so wie es in Sekten üblich ist. Denn um eine Sekte handelt es sich bei TM, bei der Transzendentalen Mediation, ganz sicherlich. Unser Lehrer, jener besagte Vorzeigegymnasiast und mittlerweile Medizindoktor, musste etwa jederzeit abrufbereit sein, wenn der Guru nach Indien rief um mindestens 2000 Leute zur gemeinsamen Meditation zu versammeln. Er sprang dann ins Flugzeug, egal was er vorhatte und welche Pflichten er zuhause hatte. Natürlich lieferte er auch Geld ab, und es gab Gerüchte über ein Luxusleben mit Rolls Royce und allem Pipapo rund um diesen Guru. Aber sein Spruch an uns, übertragen per Video-Botschaft, „You are the washing machines of the Nations“ gab uns auch ein wenig Stolz und Bindung.
Wir, meine Partnerin und ich, hatten nunmehr unseren ersten Sohn zur Welt gebracht. Ich sage „wir“, weil ich mich, obwohl nicht selbst schwanger, als wichtigen Teil empfand. Ungewöhnlich waren wir jedenfalls. Nicht nur weil wir auf eine Hausgeburt bestanden – ok, das war vor allem das großartige Vertrauen der werdenden Mutter – sondern auch weil wir anstatt Geburtsanzeigen zu verschicken Schwangerschaftsanzeigen versandten. Wir fanden das normal und richtig, aber unsere nähere Umwelt aus heutiger Sicht vermutlich befremdlich. Was diese Schwangerschaft, die Geburtsvorbereitung, die Hausgeburt, die durchwachten Nächte mit sich brachten war das Ende unserer TM-Zeit. Nicht nur deshalb, sondern auch weil wir merkten, und an anderen sahen, dass man durch die TM Meditation Energien in den Kopfbereich lenkt, die hypersensibel machen und einen auch lebensunfähig machen. Kapitel TM zu Ende, aber mit dem TM-Lehrer und seiner Familie sind wir nach wie vor befreundet, auch wenn wir einander nur selten treffen.
So nebenbei machte ich noch allerlei anderes scheinbar Verrücktes, aber das wie alles andere einen winzigen weiteren Puzzlestein zu meinem späteren Weltbild hinzu legte. Ich beschäftigte mich mit Schamanen, mit schamanischem Wiedergeborensein, mit dem Finden des eigenen Krafttieres, mit Sitzungen im Schwitzzelt. In einem unserer Seminare in der Seminarveranstalter-Zeit kam auch ein Seminar über das chinesische Wu Wei dran. Das Seminar war kein Renner, der Vortragende eigenartig, rhetorisch schlecht und er hatte stets seinen Dackel am Schoß. Aber er schaffte es, uns so ins Loslassen, ins Wu Wei, zu bringen, dass wir spontan ein Bild mit unseren Gefühlen malen konnten. Ich malte in Sekundenschnelle meine Familie als Löwenfamilie. Auf dem Bild fehle ich, denn ich bin ja der beschützende Ober-Löwe, gleichsam hinter der Kamera. Das Bild berührt mich noch heute, es hängt in unserer kleinen Bleibe am Land.
Mittlerweile war unsere Seminarfirma so weit gediehen, dass wir beständig nach neuen Angeboten für unsere Stammkunden Ausschau hielten. Meine Partnerin – wir waren noch immer nicht verheiratet – hatte seit je eine Beziehung zu Zen. Als Professorin an der Universität hat sie „wissenschaftlich“ darüber gelehrt, aber die Praxis fehlte. Das ist ein bisschen so, wie wenn Zölibatäre über tollen Sex reden. Sie machte sich also auf die Suche nach einem für unsere Business Kunden kompatiblen Zen Seminar. Zunächst fand sie einen Holländer, der Leadership und Zen zu verbinden schien, und, unseren Qualitätsansprüchen folgend, ist sie dafür natürlich nach Holland gefahren. Aber er hat sie nicht überzeugt. Also weiter suchen. Da fand sich in Deutschland, in Frankfurt, ein Seminarangebot mit Zen und Leadership. Es war ein schmuckloser Seminarraum, einfach so Matten und Bänkchen hingelegt, recht unprofessionell für unseren Standard, aber sie wusste spontan, so erzählt sie gerne, „hier bin ich zuhause“. Wir haben dann diesen Vortragenden nach Österreich gebracht und mir wird heute noch übel wenn ich daran denke wie unprofessionell, aber mit der vollen Überzeugung von sich selbst er das Seminar abhielt, jung, unerfahren und weit davon entfernt ein „Meister“ zu sein. Trotzdem aber wurde er zu unserem ersten persönlichen Zen-Lehrer. Er ist wohl auch mit der Zeit selbst gewachsen, ein Musterbeispiel für den Spruch „Fake it until You make it“. Als wir später unser eigenes Zen-Meditations-Zentrum in Wien gegründet hatten und der ÖBR, der buddhistischen Dachorganisation, beitraten, hing uns das Image, Zen bloß als „Um-zu-Zen“ zu machen, also um im Business erfolgreich zu sein, lange nach. Wir boten die Sesshins, zu solchen waren die anfänglichen Seminare in der Zwischenzeit tatsächlich geworden, und sie waren an wunderbaren Orten im Norden Deutschlands und in Bayern, auch unseren Kunden an. Aber unsere Teilnahme als Begleiter unserer Kunden sozusagen, war vor allem eine für uns. Meine Lebenspartnerin organisierte die Ausbildung für neue Übungsleiter, legte das Curriculum fest und war auch weit über die Vermittlung unserer Kunden dorthin fixer Bestandteil, so etwas wie die Kronprinzessin.
Irgendwann aber wurde das aufgeblasene Ego dieses Lehrers zum Stolperstein, auch weil wir beide immer mehr seine Mängel in der Kenntnis des Zen wahrnahmen, obwohl er natürlich trotzdem eine gewisse spirituelle Größe erlangt hatte. Also Bruch, aber es ist ihm hoch anzurechnen, dass er uns, als unsere Seminar-GmbH Konkurs anmelden musste keine Ansprüche stellte und, so weit uns bekannt, nie schlecht über uns gesprochen hat.
Wir suchten nach einem neuen Lehrer, das lief sogar einige Zeit parallel. In diesem fanden wir dann beide unsere spirituelle Heimat. Er war ein so genannter Roshi, eigentlich ein Klostervorsteher, aber auch gebräuchlich als „erfahrener, von seinem eigenen Lehrer als solcher anerkannter Lehrer“, ganz traditionell in der japanischen Rinzai Zen Tradition. Mit ihm verbrachten wir viele Tage und Stunden in Meditation und in formellen Zwiegesprächen. Ihm war es wichtig, die Tradition möglichst unverändert weiter zu geben, und diesen Respekt vor den 84 Generationen vor uns haben wir sozusagen geerbt, denn ohne sie wäre dieses Wissen nicht bis in unsere Tage erhalten geblieben. Auch wir geben sie in unserem Zendo so weiter.
Über Zen zu reden ist gar nicht so einfach. Es ist eine Methode, hat auch einen philosophischen Aspekt und wurde von unserem Lehrer als Religion aufgefasst, was unserem westlichen Religionsverständnis nicht ganz entspricht, denn es gibt keine Dogmen.
Wo sehe ich die Verbindung zu meiner Kulturisation im Christlichen? Tagtäglich in der Früh hatte ich das kleine, schön verzierte Täfelchen auf der rechten Seite des Seitenaltars gelesen, bei dem ich ministrierte, ohne sonstiges Publikum: „In Principio erat Verbum et Verbum erat apud Deum et Deus erat Verbum“, Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Eigentlich eine absurde Aussage, ein Zirkelschluss, aber es faszinierte mich seither. Heute verstehe ich diesen Satz anders. Wenn man das Wort Gott nicht personal versteht, sondern als etwas, das man sprachlich nicht besser ausdrücken kann, ist es eine wunderschöne, poetische Umschreibung der Ursachenlosigkeit, des einfach Da-Seins, das zu hinterfragen sinnlos ist, weil es keine Antwort geben kann. Und das Wort Verbum? Ein Ausdruck des undefinierbaren Strebens nach Materialisation, nach Form, nach einer Formwerdung aus der Leere, die alle Möglichkeiten beinhaltet. Physiker nennen sie Urknall, aber sie scheuen sich davor von Myriaden von Urknallen zu reden, sie scheinen nur den einen, den unsrigen zu meinen.
“ Shiki soku ze Ku, Ku zoku ze Shiki, “ Form ist Leere, Leere ist Form heißt es in der japanischen Version des Herzsutra, des Kernstücks der buddhistisch-mahayanistischen, der Zen-Lehre. In jeglicher Erscheinung ist das unendliche Potential, das noch nicht Erschienene, enthalten – und umgekehrt. „Umgekehrt“ bedeutet auch, dass dieser nicht näher fassbare Speicher beständig angefüllt wird und die Potentiale erhöht. Insofern glaube ich an eine wie auch immer geartete Evolution, bloß dass diese zugefügten Anteile so klein sind, dass diese evolutionäre Bereicherung unfassbar lange braucht.
All das weist immer noch auf ein singuläres Ereignis hin. Auf ein Ereignis, das die Menschheit immer noch als singuläres Ereignis im Universum erscheinen lässt, woraus Religionen und Esoteriker eine Sinngebung unseres Lebens ableiten. Aber kann man dieser Auffassung heute noch sein? Das James Webb Teleskop, das erstmals 2022 im All stationiert wurde, „sieht“ in weite Fernen und Zeiten, in Myriaden von Galaxien, Sonnensystemen mit ihren Planeten, die schon seit Milliarden von Jahren verschwunden sind. Was bedeutet das, wenn auch dort bewusste Wesen gelebt haben, die längst verschwunden sind? Kann man dann noch an der Einzigartigkeit der Menschheit festhalten? Wo sind dann Himmel und Hölle, wo all die Gottheiten, wo der alleinige Gott, wo das Gericht, wo das Weiterleben, wo die Wiedergeburt? Ich meine, all das, was die Menschheit bisher als Weltanschauung und Religion hervorgebracht hat, löst sich dadurch in Nichts auf.
Am ehesten spricht auch hier wieder der Buddhismus zu uns, wenn er von Alayavijnana spricht, von einem Bewusstseinsspeicher, in dem alles Gewesene und daher auch – bedenkt man es richtig – Zukünftige gespeichert ist, die erwähnte Leere, das Verbum, das gleichzeitig Gott, das Prinzip des in die Welt Tretens, ist.
So gesehen bekommen auch die märchenhaften Sutren des Buddhismus ein anderes Gesicht, wenn etwa im Lankavatarasutra (www.anchor.fm/lankavatarasutra) und im Lotossutra (www.anchor.fm/lotossutra) von phantastischen Himmelswesen die Rede ist, die zu Myriaden aus Myriaden von Welten auftauchen, Erkenntnisse hier unterstützen und verschwinden. Was zunächst wie eine märchenhafte Übertragung klingt, passt das nicht mit den Myriaden untergangener Welten zusammen, die die moderne Astronomie aufspürt? Und was ist dann unsere Position darin?
Sind das Spekulationen, ist das Glauben? Was bedeutet das in Bezug auf unser Geborenwerden, unser Leben, unseren Tod? Was hätte der Buddha dazu gesagt?
Der Buddha dieser, unserer, Welt hat sich so zu Glaubensfragen geäußert, ich gebe das frei aus dem Gedächtnis aus den Nikayas in der revolutionären Übersetzung von Carl Gustav Neumann wider. Er sagt: Es gäbe da Menschen, die glauben, die Welt sei von einem Schöpfergott erschaffen – und genau so ist es. Es gäbe aber auch Menschen, die glauben, die Welt sei von vielen Göttern erschaffen – und genau so ist es. Es gäbe aber auch Menschen, die meinen die Welt sei nicht erschaffen, sondern von sich aus entstanden – und genau so ist es. Und es gäbe Menschen, die meinen, die Welten befänden sich in einem ewigen Kreislauf von Entstehen, Vergehen und wieder Entstehen – und genau so ist es.
Er entzieht uns also den sicheren Boden, den Trost und die Hoffnung auf was auch immer … Wer das aushalte, halte es aus. Ich hoffe für mich, dass ich es auch in der Sekunde, in der es darauf ankommen wird, aushalten möge. Denn was zunächst trostlos scheint, ist in Wahrheit der größte, einem erwachten Geist zur Verfügung stehende Trost.
Der vorstehende Text ist ein leicht modifiziertes Kapitel aus meinem Erinnerungsbuch „Streiflichter – Ein Zwischenbericht 1948 bis 2022“, das ich privat habe drucken lassen.